…wenn es sich um den Menschen handelt, den du am meisten liebst.

Ich weiß es noch genau. Es war ein Mittwoch.
An diesem Tag standen für mich wichtige Abiturvorbereitungskurse an. Einige hatte ich bereits versäumt, weil ich so oft es ging versuchte bei ihm zu sein.

Dieses Mal sagte ich mir, muss ich auf jeden Fall dabei sein.
Irgendwie muss dieses Abi zu schaffen sein…und das geht nur mit einem Minimum an Grundwissen.

Jeden Tag rief ich bei ihm an und hörte nach, wie der Zustand sich veränderte.
Nur heute, an diesem Mittwoch, da zwang ich mich, es nicht vor der Schule zu tun.

„Wenn du jetzt hörst, dass es ihm wieder schlechter geht, dann kannst du dich nicht konzentrieren!“
Ich sagte mir das immer und immer wieder.

Und doch, dieser Mittwoch Morgen hatte auch etwas Neues. Es war der erste Tag, an dem mir klar wurde, dass ich ihn nicht festhalten kann und es auch nicht darf.
Dass mein Wille, so sehr er wollte, ihn niemals festhalten könnte und ich ihn gehen lassen muss.

Ich spreche von dem Menschen, der mir mein ganzes Leben bedeutet.
Meinem Bruder.

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Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text verfasse. Ob ich ihn teilen möchte mit der Öffentlichkeit. Ob ich möchte, dass jemand so tief in mich herein schauen kann.
So tief in die dunkelsten Stunden meines Lebens. Aber oberflächige Texte und Sinnlosigkeit sind so verbreitet, dass es mir umso wichtiger erscheint, echten Gefühlen einen Platz zu geben und sich nicht dafür zu schämen.

Bei weitem bin ich nicht der Mensch, der sich an Daten aufhängt. Der dann traurig ist, wenn etwas Schlimmes genau an dem Tag vor einiger Zeit passiert ist.
Die Gefühle kommen, wann sie kommen. Bilder, Erinnerungen oder längst vergessene Briefe beim Umzug lösen sie aus und es ist schön, erinnert zu werden. Denn keiner will vergessen werden und er ist viel zu wichtig als dass er vergessen werde könnte.
Er ist präsent. Immer. Jeden Tag. Ein Teil von mir.


Christian wurde im Februar 1998 geboren.
Aber an diesem Mittwoch vor 10 Jahren, kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, verließ er mich physisch.

Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Tod in meiner Familie erfahren.
Menschen in meinem Umkreis, die starben, die waren alt. Ich wusste, dass man geht, wenn man alt ist. Ich konnte das nachvollziehen. Aber alle Großeltern lebten noch und so wurde ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht damit konfrontiert, was es bedeutet, wenn ein geliebter Mensch geht.

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Progeria, so nennt sich die Krankheit, die man bei meinem Bruder einige Monate nach der Geburt prognostizierte.
Ich war 6.

Aufgeregt habe ich mich, am Tag seiner Geburt.
Noch ein Bruder.
Ich hatte doch schon 3.

Als ich ihn dann aber das erste Mal in meinen Armen hielt, da war ich verliebt. Seine großen braunen Augen und der schwarze Flaum auf seinem winzigen Kopf erwärmten mir das Herz.
Da war mir egal, dass er das vierte Testosteron-gesteuerte Geschwister von mir sein wird.
Ich wollte alles für ihn tun. Immer für ihn da sein… Ihn beschützen.

In Wahrheit, war es der kleine Mann, der mich Zeit seines Lebens beschützt hat.

Progeria.
Ein Leben im Zeitraffer.
Kurzum, alles altert schneller. Todesursachen sind Herzinfarkt, Schlaganfall. Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen.

Ich wusste es.
Unterbewusst.
Wahrhaben wollte ich das nicht.
Wer will das schon.

Mit 4 Monaten fielen ihm die Haare aus, er wuchs nicht mehr sonderlich, seine Haut wurde gläserner.
Ich sah meine Eltern weinen, verzweifeln. Irgendwann begriff auch mein kleines kindliches Gehirn, das mein Bruder vor mir gehen wird.
Dennoch versuchte man das Leben so normal wie es nur ging zu führen.
Aber das ging nicht.

Nicht mit einem so besonderen, intelligenten und kreativen Kind an seiner Seite, das vor Lebenslust strotzte. Christian war den Kindern in seinem Alter um Längen voraus, vor allem emotional.
Aufgrund der Unerfahrenheit mit solch einer Krankheit, wurde er oft gehänselt, musste reflektieren und verstehen, was an ihm anders ist als an anderen. Das ließ ihn innerlich reifen.

Und das war „nur“ das Äußere.
Ich schreibe „nur“, weil sein Herz so viel stärker war, im Vergleich zu manch anderem gesunden Menschen.

Ich liebte ihn von der ersten Sekunde an, die er in meinem Arm lag, bis heute.

Jahre vergingen, Dinge passierten, die ihm das Leben erschwerten aber er verlor nie seinen Lebensmut, hatte viele Freunde und große Träume.

Als dann die Nachricht kam, dass mein Bruder im Krankenhaus liegt, da wusste ich, dass der Moment, vor dem ich mich immer gefürchtet habe eingetreten ist.

Eine Lungenentzündung.
Es war „nur“ eine Lungenentzündung.

Ich wohnte schon eine Weile nicht mehr zu Hause und auf Grund einiger familiärer Missstände erfuhr ich auch erst Tage später, dass mein Bruder im Krankenhaus lag.
Das Krankenhaus war nur zwei Gehminuten von meiner damaligen Wohnung entfernt.

Abiturvorprüfungen.
2 Tage später.
Meine Gedanken kreisten nur um ihn. Wie geht es ihm jetzt ?,..ist es besser?..ist es schlechter?..ich will bei ihm sein… noch so vieles mit ihm machen, mit ihm erleben.

Ich weiß nicht mehr, was ich in meine Klausuren schrieb, aber am liebsten wäre ich jede Sekunde raus gerannt, zu ihm. Ich kämpfte mit meinen Tränen, denn alles schien über mir zu zerbrechen.

Im Krankenhaus konnten Sie irgendwann nichts mehr für ihn tun. Morphium kann keine Lungenentzündung heilen aber die Schmerzen ein wenig lindern. Meine Mutter entschloss ihn wieder zurück nach Hause zu holen.

Über 3,5 Wochen kämpfte er mit seinem schwachen Körper gegen die Lungenentzündung an.
Ich habe selten soviel Kampfgeist und körperliche Schwäche vereint erlebt. Könnte ich doch an seiner Stelle sein, dachte ich damals.
Es war einfach ungerecht.
Ungerecht, ungerecht, ungerecht.

Ok, ich musste mich darauf gefasst machen, sagte ich mir. Seitdem ich klein war wusste ich, dieser Moment wird irgendwann kommen. Aber wenn er dann da ist, dann ist er kalt, überraschend und ungerecht.
Er ist fordernd, dieser Moment. Verlangt dir alles ab.

Sein letzter Wunsch war, dass ich bei ihm bin.
Das hatte er zum Pastor gesagt, Sonntag Abend, der Sonntag vor dem Mittwoch.
Ich wäre gerne jede Sekunde bei ihm gewesen, wenn ich es hätte können. Wenn ich es gewusst hätte.

Er sagte es mir Montags morgens.
Ich ging nicht in die Schule. Meine Gedanken kreisten nur um ihn. Die Zeit, die ich konnte, wollte ich mit ihm verbringen..
Und da ich lange nicht mehr bei meinen Eltern wohnte und auch das Verhältnis sehr zerrüttet war, war mir dies nur während gewissen Zeiten möglich. Schulzeiten.


Er flüsterte mit seiner letzten Kraft, dass ich bleiben soll.

Wie lange können wir bleiben?
Wie lange konnte das alles so bleiben? Es war ein Moment, der so kurz, so ewig schien.

Ich sagte ihm immer wieder, wie sehr ich ihn liebte, dass er mit Abstand der tollste Bruder auf Erden ist und dass ich ihn gehen lasse.
Er schaute aus halb geöffneten Augen zu mir, runzelte die Stirn und antwortete nur “ ich weiß“.

Diese zwei Worte, die sind mir heute die schönsten Worte, wenn ich an diese dunklen Tage zurück denke. Er wusste immer, was ich für ihn empfunden habe.


Mittwoch.
14.12.2011

Schule. Sei stark. Du kannst nichts ändern. Es passiert alles wie es passieren muss…
Nach der Pause, nach deinem Referat, dann rufst du an, dann …

dann wurde die Stunde überzogen, ich musste zum nächsten Raum hetzen und schaffte es grade so noch pünktlich zu kommen.
Aber danach tätigte ich meinen bis dato täglichen Anruf.

„Es geht ihm gar nicht gut…“ waren die Worte meiner Oma.
Abiturprüfung hin oder her.
Ich musste zu ihm.
Sofort.


Ich hatte keinen Führerschein. Kein Auto. Niemand, der mich abholen konnte.
Ich rief meinen besten Freund an, der grade in der Stadt arbeitete.
Er holte mich mit seinem Dienstwagen ab, wir waren in der Garage, wollten das Auto wechseln.
Mein Handy klingelte.

„Bist du schon unterwegs?“
„Ja…in 10 Minuten bin ich da!““ Es ist aber schon zu spät!“…
Meine Mutter legte einfach auf.

Die Welt blieb stehen.

Mein Atem auch.

Mein Herz.

Es regnete in Strömen.

Wie in einem Film.

Ich befand mich in einer Blase.

Kein Geräusch war mehr zu hören.

Ich wusste nicht mehr wo ich war.

Wer ich war.


Der Mensch, der mir am liebsten war ist nicht mehr da.

Wie in Trance betrat ich den Raum, wo er lag. Leblos. Entspannt.
Sein angestrengter, schmerzerfüllter Blick war zu einem entspannten Gesicht verwandelt.

Der Dezember ist für viele Menschen eine nachdenkliche, besinnliche Zeit. Doch wie besinnlich ist es wirklich?
Weihnachten, das Fest der Familie, der Liebe.
Wir gehen auf Geschenkejagd. Ein Kommerzdeal nach dem anderen.

Die Welt, auf der ich vor über 10 Jahren noch gelebt habe, existiert nicht mehr.
Und alle Geschenke, die ich bekam oder selbst gemacht habe, waren nie wieder soviel Wert, wie die Zeit, die ich mit ihm verbracht habe.

Das erste Jahr nach seinem Tod war ein Kampf mit mir selbst. Eine Definitionsfrage meines Individuums, eine Definitionsfrage vom Sinn des Lebens..
Mehr und mehr lernte ich von ihm, die größten Lektionen meines bisherigen Lebens, die er mir zu seinen Lebzeiten immer wieder vermittelt hat.

Einfachheit.
Sein, so wie man ist.
Die kleinen Dinge zu Großen machen.
Erlebnisse die man miteinander geteilt hat sind (un)endlich.

Und das Größte ist:
Dankbarkeit.
Dankbarkeit in der Vollendung des Annehmens. Glücklich sein ist die höchste Form der Dankbarkeit.

Und ich bin dankbar dafür, dass ich die Schwester eines wundervollen Wesens war und bin und ich so viel lernen durfte von ihm.

Dankbarkeit ist letztlich das Gefühl, das nach allem Schmerz übrig geblieben ist und mich mit dem Tod versöhnt hat. Christian starb ein einem Mittwoch. An einem Mittwoch wurde meine Tochter geboren. An seinem Geburtstag erfuhr ich durch Zufall von meiner Schwangerschaft. Er ist da.

Das Lieblingskuscheltier meiner Tochter ist sein Plüschhund „Babyhund“ hat sie ihn getauft. Sie hat ihn sich selbst ausgesucht unter ihren vielen Kuscheltieren. Er ist da. Die Liebe ist da.

Deswegen schaue ich zurück mit einem Lächeln, nach vorne mit offenem Herzen und in diesem Moment in mich hinein, wo ein Teil von ihm immer weiter leben wird.
Danke dafür.
Du wirst nie vergessen sein.
Und dieses Leben, dass wird gelebt. 

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